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Haftung des Radfahrers bei Vorfahrtsverletzung

  Haftung des Radfahrers bei Vorfahrtsverletzung OLG Hamm, Urteil vom 17.01.2017 – I-9 U 22/16 Das OLG Hamm hat zunächst den Vorfahrtsbereich im nicht beschilderten Rondell bestimmt, dann den Schutzzweck des Rechtsfahrgebotes umschrieben und schließlich die Haftung des Radfahrers, der die Vorfahrt verletzt und die Unaufmerksamkeit des bevorrechtigten Kraftfahrers gegeneinander abgewogen. Im Ergebnis haftet der […]

 

Haftung des Radfahrers bei Vorfahrtsverletzung

OLG Hamm, Urteil vom 17.01.2017 – I-9 U 22/16

Das OLG Hamm hat zunächst den Vorfahrtsbereich im nicht beschilderten Rondell bestimmt, dann den Schutzzweck des Rechtsfahrgebotes umschrieben und schließlich die Haftung des Radfahrers, der die Vorfahrt verletzt und die Unaufmerksamkeit des bevorrechtigten Kraftfahrers gegeneinander abgewogen. Im Ergebnis haftet der Radfahrer zu 60%.

 

Gründe:

Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am … um … Uhr auf der Kreuzung der X-Straße /L-Straße in N ereignete. Hierbei handelt es sich nicht um eine rechtwinklige Kreuzung, sondern um ein Rondell, in dem die Vorfahrtsregelung „rechts vor links“ gilt. Die 1937 geboren Klägerin fuhr mit ihrem Fahrrad von der X-Straße aus in das Rondell ein mit dem Ziel, an der gegenüberliegenden Einmündung, somit quasi geradeaus, weiterzufahren. Aus der aus ihrer Sicht rechts gelegenen L-Straße näherte sich die Beklagte zu 1) mit ihrem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW. Zwischen den Einmündungen der L-Straße und der T-Straße, in welche die Klägerin einfahren wollte, kam es zur Kollision dergestalt, dass die Klägerin an die vordere linke Ecke des Beklagtenfahrzeuges prallte. Die Klägerin zog diverse Verletzungen zu. Die Klägerin macht u. a. Schmerzensgeld geltend.

Das Landgericht sieht lediglich eine Mithaftung der Klägerin in 20%. Gegen dieses Urteil, richten sich die wechselseitigen Berufungen der Parteien. Die Klägerin erstrebt die volle Haftung der Beklagten.

Die Berufung der Beklagten hat einen Teilerfolg, weil der Senat die maßgebliche Frage der Haftung der unfallbeteiligten Parteien anders beurteilt als das Landgericht.

Die Haftung der Beklagten für das Unfallereignis ergibt sich aus § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, während sich die Mithaftung der Klägerin nach § 9 StVG i. V. m. § 254 BGB richtet.

Dass sich die vom Beklagtenfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr bei der Entstehung des Unfalls ausgewirkt hat, ist unzweifelhaft. Ferner hat zur Entstehung des Unfalls ein Mitverschulden der Klägerin beigetragen, die einen Vorfahrtsverstoß im Sinne des § 8 Abs. 1 StVO begangen hat. Sie hatte nämlich an der fraglichen Kreuzung die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ zu beachten. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, sie habe das von der Beklagten zu 1) gesteuerte Fahrzeug beim Einfahren in die als Rondell ausgestaltete Kreuzung gesehen, jedoch angenommen, den Kreuzungsbereich noch vor diesem Fahrzeug verlassen zu können, weil das Beklagtenfahrzeug sehr langsam gefahren sei. Mithin ist unstreitig, dass das Beklagtenfahrzeug als bevorrechtigtes Fahrzeug zu erkennen war, als die Klägerin in die Kreuzung einfuhr. Ihre Einschätzung, den Kreuzungsbereich noch vor dem Beklagtenfahrzeug räumen zu können, hat sich leider nicht bewahrheitet. Die Klägerin hätte in der konkreten Situation den Vorrang des Beklagtenfahrzeuges beachten und das Überqueren der Kreuzung zurückstellen müssen.

Der Unfall ereignete sich noch in dem Bereich, in welchem das Fahrzeug der Beklagten zu 1) gegenüber der Klägerin bevorrechtigt war.

Den Vorfahrtsbereich bilden das Einmündungsviereck und die linke Hälfte der untergeordneten Straße, d. h. die gesamte Kreuzungsfläche in ganzer Fahrbahnbreite, bei rechtwinkeligen Kreuzungen begrenzt durch die Fluchtlinien beider Fahrbahnen. Bei trichterförmiger Einmündung der bevorrechtigten Straße ist dies der Bereich einschließlich der Fläche bis zu den Endpunkten des Trichters. Hiervon ausgehend ereignete sich der Zusammenstoß, wie auch die Lichtbilder vom Unfallort belegen, in dem der Beklagten zu 1) die Vorfahrt einräumenden Bereich.

Selbst wenn man den Vorfahrtsbereich ohne Berücksichtigung des Einmündungstrichters bestimmen wollte, ereignete sich die Kollision möglicherweise ganz knapp außerhalb des durch die seitlich gezogenen Fluchtlinien definierten Bereichs. Das änderte nichts an der Feststellung eines Vorfahrtsverstoßes seitens der Klägerin. Denn der Wartepflichtige muss gegenüber sichtbaren Berechtigten im Kreuzungsbereich bis zur vollständigen Einordnung das Vorfahrtsrecht beachten, auch wenn sich die Fahrbahnen erst jenseits der Kreuzung berühren. Die Wartepflicht entfällt erst dann, wenn der Wartepflichtige schon auf der Kreuzung ist und ausreichend Vorsprung gewonnen hat. Daraus folgt, dass der Wartepflichtige sicherstellen muss, dass er die Kreuzung vor dem Vorfahrtsberechtigten räumen kann. Dass es zum Zusammenstoß gekommen ist belegt, dass dies seitens der Klägerin nicht sichergestellt werden konnte. Dabei entlastet die Klägerin nicht, dass sich die Beklagte zu 1), wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergeben wird, selbst vorschriftswidrig verhalten hat, als sie in das Rondell eingefahren ist. Denn das eigene vorschriftswidrige Verhalten des Vorfahrtsberechtigten lässt dessen Vorfahrtsrecht nicht entfallen.

Des Rückgriffs auf die Anscheinsbeweisgrundsätze bedarf es, nachdem ein Vorfahrtsverstoß der Klägerin positiv festgestellt werden kann, entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht.

Der Senat vermag – anders als das Landgericht – einen Verstoß der Klägerin gegen das sich aus § 2 Abs. 2 StVO ergebende Rechtsfahrgebot nicht festzustellen. Es ist schon vom Schutzzweck her fraglich, ob die einbiegende und nicht im Längsverkehr mit der Klägerin befindliche Beklagte zu 1) – und damit auch die Beklagte zu 2) – sich überhaupt auf einen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot berufen könnte. Die Klägerin ist im Übrigen mit ihrem Fahrrad geradeaus gefahren. Dass sich zu ihrer rechten Hand der Einmündungstrichter der L-Straße öffnete und sie nicht in diesen hineingefahren ist, sondern sie in Beibehaltung der vorher eingenommenen Fahrlinie das Rondell durchquert hat, begründet bereits erhebliche Zweifel in Bezug auf die Annahme eines Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot. Jedenfalls lässt sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen, dass dieser Verstoß sich ursächlich auf den Unfall ausgewirkt hat. Eine entsprechende Überzeugung hat sich auch das Landgericht nicht verschaffen können, das sich insoweit lediglich auf eine nicht durch Tatsachen belegte Vermutung stützt.

Nach der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass auch die Beklagte zu 1) ein gravierendes Verschulden an der Entstehung des Unfalls trifft. Denn diese hat das in das Rondell einfahrende Fahrrad der Klägerin offensichtlich übersehen, als sie den Entschluss fasste, in das Rondell einzufahren, oder aber versäumt, vor der Einfahrt nach links zu schauen. Damit hat sie gegen die allgemeine Rücksichtnahmepflicht aus § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Der Zeuge I hat ausgesagt, dass er die Klägerin mit ihrem Fahrrad bereits auf der Fahrbahn des Rondells erkannt habe, als er sich hinter dem vor der Einfahrt in das Rondell befindlichen Fahrzeug der Beklagten zu 1) dem Rondell genähert habe. Daraus folgt zwingend, dass die Beklagte zu 1), wenn sie sich vor Einfahrt in das Rondell nach links vergewissert hätte, wozu sie verpflichtet war, die Klägerin auf ihrem Fahrrad hätte sehen müssen. Dann jedoch hätte sie den Unfall dadurch vermeiden können, dass sie ihre Einfahrt in das Rondell zurückgestellt hätte. Sie war zwar bevorrechtigt, jedoch nicht berechtigt, ihr Vorfahrtsrecht, das für sie erkennbar verletzt wurde, ohne Rücksicht auf die Klägerin durchzusetzen. Ihr Vertrauen darauf, dass ihr Vorfahrtsrecht von der Klägerin beachtet werde, wäre durch einen ausreichenden Blick nach links zerstört worden.

Demgegenüber ist es der Beklagten zu 1) nicht gesondert vorzuwerfen, dass sie es im Rondell versäumt hat, erneut nach links zu schauen, nachdem sie die Klägerin bereits übersehen hatte. Denn im Rondell hatte sie ihrerseits das Vorfahrtsrecht der aus der T-Straße in die Kreuzung einfahrenden Fahrzeuge zu beachten und musste sich zu diesem Zweck nach rechts orientieren.

Der Senat bewertet die beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge an der Entstehung des Unfalls mit einer Haftungsquote von 60% zu 40% zulasten der Klägerin. Der Klägerin ist hier mit dem Vorfahrtsverstoß der gravierendere Vorwurf zu machen, denn während die Beklagte zu 1) die allgemeinen Sorgfaltspflichten aus § 1 Abs. 2 StVO zu beobachten hatte, trafen die Klägerin die besonderen Pflichten aus § 8 StVO, die sie sehenden Auges verletzt hat, weil sie in der Annahme, die Kreuzung noch rechtzeitig räumen zu können, trotz des für sie deutlich sichtbaren Fahrzeugs der Beklagten zu 1) in die Kreuzung eingefahren ist. Grundsätzlich trifft den Wartepflichtigen gegenüber dem bevorrechtigten Verkehr ein überwiegendes Verschulden, wobei ein Verschätzen zulasten des Wartepflichtigen geht.

 

Hinweis:

Auch wenn der Radfahrer gegenüber einem Kraftfahrer schutzbedürftiger aussieht, hat er die Verkehrsregeln zu beachten und natürlich einzuhalten. Hier hat die Radfahrerin schlimme Verletzungen erlitten, die allerdings zum großen Teil auf ihr schuldhaftes Verhalten zurückzuführen sind. Die mangelnde Aufmerksamkeit des Kraftfahrers wurde bei der Haftungsverteilung hinreichend gewürdigt.

Im Ergebnis hebt das Gericht § 1 Abs. 2 StVO (gegenseitiges Gebot der Rücksichtnahme) und § 2 Abs. 2 StVO (Rechtsfahrgebot) hervor. Zum einen soll ein Verkehrsteilnehmer stets das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer stets im Auge behalten und zum anderen schützen die Vorschriften nicht den einzelnen Verkehrsteilnehmer, sondern die Allgemeinheit vor dem einzelnen Verkehrsteilnehmer. Das Rechtsfahrgebot dient nämlich allein dem Schutz des Gegen- und Überholverkehrs, nicht jedoch dem des einbiegenden oder kreuzenden Querverkehrs.