Artikel bewerten

Aufklärungsobliegenheit bei einem Kaskoschaden

Aufklärungsobliegenheit bei einem Kaskoschaden Die Obliegenheiten aus der AKB 2008 E gehen hinsichtlich des Entfernens vom Unfallort nicht über die Pflicht des § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) hinaus. Diese Obliegenheit gebietet, nur ein (passives) Warten am Unfallort und nicht ein (aktives) Benachrichtigen des Geschädigten oder der Polizei; denn die Klausel verlangt nur, die […]

Aufklärungsobliegenheit bei einem Kaskoschaden

  1. Die Obliegenheiten aus der AKB 2008 E gehen hinsichtlich des Entfernens vom Unfallort nicht über die Pflicht des § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) hinaus.
  2. Diese Obliegenheit gebietet, nur ein (passives) Warten am Unfallort und nicht ein (aktives) Benachrichtigen des Geschädigten oder der Polizei; denn die Klausel verlangt nur, die erforderlichen Feststellungen „zu ermöglichen“.
  3. Die Leistungsfreiheit wurde durch das Gericht verneint, weil kein relevanter Fremdschaden i. S. d. § 142 StGB festzustellen war. Außerdem konnte dem Versicherungsnehmer weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden. Im Übrigen informierte der Versicherte nach Beendigung der Fahrt umgehend den Versicherer.

 

OLG Hamm, Urteil vom 15.4.2016 – 20 U 240/15

Zum Sachverhalt

Der Kläger ist Versicherungsnehmer und begehrt von seiner Vollkaskoversicherung in Leistung zu treten, also den Schaden aus einem Verkehrsunfall zu ersetzen. Der Kläger geriet mit dem versicherten Fahrzeug auf einer Bundesautobahn bei Aquaplaning ins Schleudern. Das Fahrzeug streifte die Leitplanke. Der Kläger stieg aus, besah sich die Leitplanke und verließ dann nach kurzer Zeit mit dem beschädigten Fahrzeug die Unfallstelle. Er fuhr in sein Büro und benachrichtigte dort gegen sofort die Beklagte. Nachfragen oder Weisungen zu aktuellen Feststellungen wurden ihm dabei nicht erteilt.

Nach Fertigstellung des Gutachtens lehnte die Beklagte die Leistungen ab und machte geltend, der Kläger habe vorsätzlich gegen die Obliegenheit aus E. 1.3 Abs. 1 und 2 der vereinbarten AKB verstoßen. Dort heißt es:

„Sie sind verpflichtet, alles zu tun, was der Aufklärung des Schadenereignisses dienen kann. Dies bedeutet insbesondere, dass Sie unsere Fragen zu den Umständen des Schadenereignisses wahrheitsgemäß und vollständig beantworten müssen und den Unfallort nicht verlassen dürfen, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen.

Unter erforderlichen Feststellungen ist die Aufnahme der erforderlichen Daten zum Schadenereignis je nach Umfang des Schadens (Unfallbericht, Name und Anschrift der Unfallbeteiligten und Zeugen, Fotoaufnahmen, Verständigung der Polizei und ähnliches) zu verstehen.“

Der Kläger hat behauptet, ein Schaden an der Leitplanke sei nicht zu sehen gewesen.

Das LG Bielefeld hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

Dem Versicherungsnehmer steht eine Entschädigung in Höhe der in Folge des Unfalls erforderlichen Reparaturkosten zu, wenn das Fahrzeug nicht vollständig und fachgerecht repariert wird, wobei der Versicherer gem. Nr. A.2.9 AKB nur den Nettobetrag erstattet, wenn keine Mehrwertsteuer angefallen ist.

Die Versicherung ist nicht gem. Nr. E.6.1 AKB iVm § 28 II, III VVG von ihrer Leistungspflicht befreit, weil der Versicherungsnehmer eine Aufklärungsobliegenheit verletzte, indem er nur kurze Zeit an der Unfallstelle blieb, ohne die Polizei zu verständigen und der Versicherung den Unfall erst anderthalb Stunden später meldete. Eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung liegt aber nicht vor.

Dies ist aber Voraussetzung für eine Obliegenheitsverletzung.

Der Senat hat bereits Zweifel, ob überhaupt eine objektive Obliegenheitsverletzung vorliegt, denn die aus den Versicherungsbedingungen, was das Verlassen des Unfallortes angeht, gehen nicht über die Pflichten des § 142 StGB hinaus.

 

Das Verlassen des Unfallorts wäre hiernach nur dann eine Obliegenheitsverletzung gewesen, wenn objektiv ein i. S. d § 142 StGB relevanter Fremdschaden gegeben war und der Versicherungsnehmer dies erkannte oder jedenfalls bedingt vorsätzlich die Augen davor verschloss.

Diese Voraussetzungen der Obliegenheitsverletzung stehen zur Beweislast der Versicherung.

 

Der Kläger hat bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht bekundet, er habe bei Nachschau an der Anstoßstelle keine Beschädigungen der Leitplanke oder einen sonstigen Schaden festgestellt.

Eine solche – mehr als belanglose – Beschädigung ergibt sich auch nicht etwa ohne Weiteres aus der Beschädigung des Fahrzeugs. Die Beklagte hat dazu nichts Konkretes vorgetragen und keinen Beweisantrag gestellt. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die – für solche Kollisionen konzipierte – Leitplanke die Streifkollision ohne relevante Schäden überstand. Ein relevanter Fremdschaden lässt sich daher schon objektiv nicht feststellen, erst recht nicht ein (bedingter) Vorsatz des des Klägers.

Die Obliegenheit dürfte auch nicht etwa dahin zu verstehen sein, dass sie – nicht nur ein Warten, sondern auch – ein aktives Benachrichtigen der Polizei verlangt. Jedenfalls wird das gelten in einem Fall wie dem vorliegenden, weil die Klausel, wie gesagt, „je nach Umfang des Schadens“ offenbar Verschiedenes verlangt.

Selbst wenn man die Obliegenheit nicht auf die Pflichten des § 142 StGB begrenzt, ist zweifelhaft, ob der Kläger die Obliegenheit, zu warten und Feststellungen zu ermöglichen, verletzt hat.

Nach dem Wortlaut von E. 1.3 Abs. 1 wird kein aktives Verhalten verlangt, sondern nur das Ermöglichen von Feststellungen und damit das Gewährenlassen feststellungsbereiter (dritter) Personen. Abs. 2 erläutert nach seinem Wortlaut nur die Feststellungen, welche der Versicherungsnehmer – nach Abs. 1 – zu ermöglichen hat. Danach ist die Verständigung der Polizei eine von mehreren möglichen Maßnahmen, die zur Aufnahme der erforderlichen Daten zum Schadenereignis und damit zu den Feststellungen gehören und die der Versicherungsnehmer (nur) zu ermöglichen hat.

Und auch ein Verstoß gegen die bloße Obliegenheit, an der Unfallstelle eine angemessene Zeit zu warten, ist zweifelhaft.

Das Warten an der Unfallstelle ist wohl nur dann zur Ermöglichung von Feststellungen geeignet, wenn ein Feststellungsinteresse Dritter besteht und feststellungsbereite Personen anwesend sind oder deren Erscheinen jedenfalls nicht auszuschließen ist. Warum Letzteres anzunehmen sein sollte, hat die Beklagte nicht dargetan und ist auch sonst kaum ersichtlich. Ein relevanter Fremdschaden steht nicht fest und mit dem Erscheinen – eines Mitarbeiters oder Beauftragten – der Beklagten (als der maßgeblich an weiteren Feststellungen interessierten Person) war jedenfalls nicht zu rechnen.

Ob der Versicherungsnehmer nach alledem im Falle eines Unfalls ohne Fremdschaden im Rahmen seiner allgemeinen Obliegenheit aus Nr. E.1.3 Abs. 1 S. 1 AKB, „alles zu tun, was zur Aufklärung des Schadenereignisses dienen kann“, dennoch gehalten ist, an der Unfallstelle angemessene Zeit abzuwarten, bis eine feststellungsbereite Person kommt, oder diese von sich aus zu verständigen, kann im Ergebnis offen bleiben, weil der Kläger eine solche Verpflichtung jedenfalls nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat:

Vorsatz ist anzunehmen, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheitsverletzung für möglich hält und billigend in Kauf nimmt. Für das Bewusstsein der Obliegenheitswidrigkeit genügt es, dass er kraft „Parallelwertung in der Laiensphäre“ die Merkmale der Obliegenheit im Kern kennt.

Eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung setzt damit voraus, dass der Versicherungsnehmer (oder der ebenso verpflichtete Versicherte) es zumindest für möglich hält, dass er an der Unfallstelle zu warten bzw. die Polizei oder den Versicherer zu verständigen hat.

Auf die Kenntnis der allgemein bekannten strafrechtlich bewehrten Wartepflicht aus § 142 StGB ist in diesem Zusammenhang nicht abzustellen. Maßgeblich ist vielmehr, ob es der Versicherungsnehmer für möglich hält, dass er – auch ohne Eintritt eines Fremdschadens – an der Unfallstelle zu warten und gegebenenfalls die Polizei zu verständigen hat und dass er einen entsprechenden Obliegenheitsverstoß in Kauf nimmt.

Dies lässt sich nach den vorstehend dargestellten Überlegungen zum objektiven Regelungsgehalt der Klausel nicht bejahen. Ein versicherungsrechtlich nicht vorgebildeter Laie erkennt nicht ohne Weiteres, dass der Versicherer von ihm – auch in einem Fall wie dem vorliegenden – verlangt, schon an der Unfallstelle alle Vorkehrungen zur zeitnahen Feststellung des Schadenereignisses zu treffen und insbesondere die Unfallstelle nicht zu verlassen, wenn es an einem Fremdschaden fehlt.

Die Vorgaben der versicherungsrechtlichen Aufklärungsobliegenheit dienen in solchen Fällen im Ergebnis nur dem Feststellungsinteresse des Versicherers, welches in seinen Einzelheiten nicht jedem Versicherungsnehmer bekannt ist. Insbesondere lässt sich nicht erwarten, dass einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer – oder ihm gleichgestellten Versicherten – das Interesse des Versicherers präsent ist, – auch in einem Fall wie dem vorliegenden – möglichst zeitnah und unverfälschbar (und damit letztlich durch die Polizei) Feststellungen zur Identität des Fahrers und seiner Fahrtüchtigkeit zu treffen und nicht erst – wie hier – anderthalb Stunden später von einem anderen Ort telefonisch benachrichtigt zu werden.

Der Kläger benachrichtigte die Beklagte schon nach Fahrtende telefonisch über den Unfall. Dass er dies nicht schon vorher an der Unfallstelle tat, beruhte so offenbar nicht auf dem Bestreben, die Erfüllung einer bekannten Feststellungsermöglichungspflicht hinauszuzögern.

 

Auch eine grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung liegt nicht vor.

Die objektive Obliegenheitsverletzung ist – auch im Rahmen des § 28 II 2 VVG – vom Versicherer zu beweisen. Der Versicherungsnehmer trägt nach dieser Vorschrift die Beweislast nur für das Nichtvorliegen eines grob fahrlässigen Verschuldens.

In Rede steht also auch hier nur das Verlassen der Unfallstelle ohne einen i. S. d. § 142 StGB relevanten Fremdschaden.

Dies war vorliegend nach Auffassung des Senats nicht grob fahrlässig. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gröblich außer acht lässt und nicht beachtet, was unter den gegebenen Umständen jedermann einleuchten musste.

Für die Verletzung der Aufklärungsobliegenheit setzt dies voraus, dass der Verpflichtete ohne Weiteres erkennen konnte, welche Aufklärungsmaßnahmen von ihm erwartet wurden und er sich darüber leichtfertig hinwegsetzte.

Die Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben.

Dass der Kläger nicht erkannte, dass die Beklagte von ihm ein Warten an der Unfallstelle oder etwa eine Verständigung der Polizei oder des Versicherers verlangte, kann schon nach den Ausführungen zum objektiven Gehalt der Aufklärungsobliegenheit und zu den Voraussetzungen einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung nicht als grob fahrlässig gewertet werden.

Danach ist schon aus versicherungsrechtlicher Sicht zumindest zweifelhaft, ob der Versicherungsnehmer oder der Versicherte auch ohne Fremdschaden aktiv Feststellungen treffen und in die Wege leiten muss, indem er etwa die Polizei zum Unfallort ruft. Ein diesbezüglicher Rechtsirrtum ist einem versicherungsrechtlichen Laien nicht als grob fahrlässig anzulasten, weil er sich nicht über eine jedermann einleuchtende Verhaltensanforderung hinwegsetzt.

Ebenso wenig ist die Verneinung einer Wartepflicht als grob fahrlässig anzusehen, wenn mangels Fremdschadens mit dem Erscheinen feststellungsbereiter Dritter nicht zu rechnen war.

Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass sich der Unfall auf einer Bundesautobahn ereignet hatte. Die Annahme, die Bekl. unmittelbar nach Fahrtende noch rechtzeitig über den Schadenfall informieren zu können, kann nicht als grob fahrlässiges Verkennen der Aufklärungsobliegenheiten gewertet werden.

So heißt es auch in dem Standardkommentar zum VVG (Knappmann, § 28 Rn. 205): „Eine Meldung beim Versicherer reicht … aus, wenn damit tatsächliche Möglichkeiten zu zeitnahen Feststellungen gegeben werden.“

Soweit die Beklagte bei dem Telefonat auf Weisungen verzichtete, geht dies zu Ihren Lasten. Sie hätte solche Weisungen oder weitere Nachfragen halten können.